Tinnitus – Verlust der Stille
Unerwünschte Dauerbeschallung rund um die Uhr, ein qualvoller Störsender im Ohr ohne Möglichkeit ihn ausschalten zu können… ein akustischer Albtraum. Rund jeder Zehnte kennt Tinnitus aus eigener Erfahrung. Doch was für die einen nahezu unerträglich ist, ist für andere halb so schlimm. Woran liegt das?
Tinnitus bezeichnet alle Arten von Ohrgeräuschen die nicht von außen kommen, sondern in uns selbst entstehen. Dabei kann es sich um eine vorübergehende Störung handeln, oder auch um ein chronisches Leiden. Doch was sind die Ursachen? Und was kann man tun, um das lästige Geräusch wieder los zu werden?
Tinnitus – was ist das?
Egal, ob es sich um ein dezentes Summen, oder um ein weniger dezentes Kreischen oder Pfeifen handelt – Ohrgeräusche nerven. Zumindest berichtet das die überwiegende Mehrheit der Betroffenen.
Was viele nicht wissen: fast jeder hat irgendwann im Leben ein ‚Ohrgeräusch‘. Oft im Zuge oder im Anschluss an eine Entzündung des Gehörgangs oder auch als Folge eines Hörsturzes.
Diese Art von Tinnitus wird meist als unangenehme Begleiterscheinung eines anderen Leidens betrachtet. Betroffene schenken ihm dann recht wenig Bedeutung – durchaus auch in der Annahme, dass das Geräusch wohl ohnedies rasch wieder vorbeigehen wird.
Was ja auch meistens geschieht – aber eben nicht immer…. Ob ein Tinnitus nur vorübergehend da ist oder bleibt ist meist unklar und schwer prognostizierbar.
Die Ursachen sind hingegen rasch benannt. Ohrenerkrankungen, Stress und psychische Traumata sind die Hauptursachen für das Dauergetöns.
Besonders Menschen, die schwerhörig sind, leiden oft unter Tinnitus. Die Erklärung liegt auf der Hand: durch eine Unterbeschäftigung der fürs Hören zuständigen Hirnareale beginnen diese sich mehr auf das Innenleben zu konzentrieren bzw. selbstständig Geräusche zu produzieren.
Wann ist es still?
Auch wenn wir meinen in absoluter Stille zu sein – Lärm ist die Regel! Selbst wenn wir in einem absolut stillen Raum sind, greifen die Sinneszellen in unserem Innenohr Schallwellen auf. Es gibt immer Geräusche – und wenn nicht in der Außenumgebung, dann in unserem Innenleben.
Bei vollkommener äußerer Stille produzieren unsere Sinneszellen selbst Geräusche – und diese sind sogar objektiv messbar. Dieses Phänomen kennt man otoakustische Emission.
Diese otoakustischen Emissionen werden an das Gehirn gesendet und dort in Töne umgewandelt. Doch diese hören wir im Normafall nicht, weil unser Gehirn für uns vorselektiert, was wir wahrnehmen (sollen) und was eben nicht.
Ohr oder Hirn?
Die im Innenohr ständig vorhandene Grundaktivität wird von unserem Gehirn normalerweise als Stille interpretiert. Wir nehmen also nicht wahr, was ist, sondern das, was unser Gehirn aus den vom Innenohr ankommenden Informationen macht.
Lärm ist also immer da. Aber wenn unser Gehirn diesen zulässt, statt ihn als Stille zu interpretieren, wie üblich, spricht man von einem Tinnitus. Das Gehirn verbeißt sich bei dieser Störung quasi in ein Ohrgeräusch und schaltet auf ‚Dauerbeschallung‘.
Exkurs: Viele Jahre dachte man, dass das Übel im Ohr seinen Ursprung habe. Doch als auch nach drastischen Maßnahmen wie der Durchtrennung des Hörnervs Patienten weiter unter Tinnitus litten, war klar, dass das Problem im Kopf und nicht im Ohr beheimatet sein muss.
Leidensdruck
Manche behaupten, ihr Tinnitus bringe sie an den Rand des Wahnsinns, wieder andere meinen – ja, unangenehm sei es schon, aber halb so schlimm… Auch Ärzte berichten von Patienten, die sich nach jahrelanger Diagnose kaum in ihrer Lebensqualität beeinträchtigt sehen aber auch von solchen, die der Tinnitus in den Selbstmord getrieben hat.
Doch worin ist dieses unterschiedliche Erleben begründet? Fakt ist: da das Geräusch ja nur für den Betroffenen selbst hörbar ist, sind Vergleiche schwierig. Dennoch lassen sich anhand von ausgeklügelten Studien zumindest Patientengruppen bilden, die eine ähnliche Art von Ton in vergleichbarer Lautstärke wahrnehmen. Doch auch in diesen vergleichbaren Gruppen wird der Leidensdruck ganz unterschiedlich erlebt.
Also liegt es eventuell an der Grundeinstellung? Ist eine positive Lebenseinstellung von Vorteil um mit einem Tinnitus ‚gut‘ leben zu können?
Das Ergebnis einer Langzeitstudie Studie kam zunächst zu dem Schluss, dass eine positive Einstellung wenig Einfluss auf die Krankheit an sich und ihren Ausbruch hat. Beim Verlauf der Krankheit und dem empfundenen Leidensdruck gab es aber starke subjektive Unterschiede: Wer generell eher zu negativem Denken tendiert, hat ein wesentlich höheres Risiko, dass sich sein Krankheitsgefühl verstärkt und in Folge die Symptome sogar verschlechtern, als jemand der mit einer gewissen Leichtigkeit durchs Leben geht.
Subjektives Erleben
Eine wirksame medikamentöse Behandlung gibt es bis heute nicht – Erfolge mit durchblutungsfördernden Tabletten wurden letztlich immer als Placeboeffekte entlarvt. Das Ziel einer Tinnitus Therapie zielt also vor allem darauf ab, das Leben mit der Dauerbeschallung erträglich zu machen.
Eine begleitende psychologische oder psychotherapeutische Betreuung ist empfehlenswert und mittlerweile medizinischer Standard. Kognitive Verhaltenstherapie hilft, das Denken über den Tinnitus zu verändern. Auch Bio- und Neurofeedback sind gute Möglichkeiten, Betroffenen Entspannungstechniken beizubringen um den Fokus weg vom Geräusch zu lenken.
Auch Musiktherapien und der Einsatz des Noisers – eines Geräts, das laute Töne aussendet um damit das Dauergeräusch im Kopf zu übertönen – schaffen Linderung.
Wer unter Tinnitus leidet, muss primär an seinem Leidendruck ‚arbeiten‘ und sich mit sich selbst auseinandersetzen, statt Heilung im Außen zu suchen.
So mancher Betroffene hat den Tinnitus als Anlass genutzt, mehr Achtsamkeit in sein Leben zu bringen und ging am Ende gestärkt aus der Episode heraus. Das Dauergeräusch im Ohr kann also auch eine Chance sein – ein Warnsignal ist es allemal.
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Quelle:
¹ Österreichische Tinnitutsliga
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