Mutismus
Warum sprechen Kinder nicht, obwohl sie sprechen können?
Die Diagnose Mutismus wirft häufig viele Fragen auf. Eltern, Lehrer, Logopäden, Ärzte und Psychologen stehen vor einem Rätsel. Warum nutzen Kinder, Jugendliche oder Erwachsene plötzlich nicht mehr ihre Sprache? Warum nutzen sie keine verbalsprachlichen Mittel mehr, um sich mit ihrer Umwelt auseinanderzusetzen? Was ist mit dem angeborenen Trieb der sprachlichen Kommunikation geschehen? Umso spannender wird die interdisziplinäre Frage nach dem eigentlichen Wesen dieser sehr seltenen Kommunikationsstörung.
Was ist Mutismus?
Mutismus ist eine Art der Kommunikationsstörung. Die Bezeichnung stammt aus dem Lateinischen von mutitas (Stummheit) und mutus (stumm) ab. Fachkräfte sprechen hierbei von einem psychogenen Schweigen. Die Diagnose Mutismus erfolgt ohne Fehlbildungen der Sprechorgane beziehungsweise des Gehörs. Studien zur Folge tritt Mutismus häufig zur Diagnose Sozialphobie auf. Die Kommunikationsstörung kann bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen auftreten. Dabei korreliert diese Störung im Jugend- und Erwachsenenalter häufig mit Depressionen. Es gibt zwei verschiedene Arten von Mutismus: totaler und selektiver Mutismus.
Wie oft tritt Mutismus auf?
Mutismus gilt aufgrund des seltenen Vorkommens als meist unbekannte Kommunikationsstörung. Im Kindesalter tritt Mutismus sehr selten auf. Circa zwei bis fünf Kinder von 10.000 Kindern im Vor- und Schulalter sind davon betroffen. Dennoch sind die statistischen Werte eher schwierig zu bewerten, da die Aussage anhand einer sehr kleinen Stichprobe getätigt wurde. Seit dem Jahr 1972 wird durch die Autoren Schweigert und Kurth erstmalig eine weitere Unterscheidung von Mutismus vorgenommen:
- Frühmutismus (drittes bis viertes Lebensjahr)
- Spätmutismus beziehungsweise Schulmutismus (während des Schuleintritts zwischen dem fünften und siebenten Lebensjahr)
Seit wann ist Mutismus bekannt?
Der Fachbegriff Mutismus wurde im Jahr 1934 durch den Kinder- und Jugendpsychiater Moritz Tramer aus der Schweiz eingeführt. Ab diesem Zeitpunkt verbreitete sich dieses Störungsbild samt seiner Veröffentlichen in der internationalen Fachwelt. Im Augenblick ergänzen Fachkräfte den Mutismus zudem durch den selektiven Mutismus. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) beschreibt diese spezielle Störung im ICD-10-GM unter der Klassifizierung F94.0 als elektiven Mutismus. Die Amerikanische Gesellschaft für Psychiatrie nutzt hingegen auch selektiver Mutismus in ihrem DMS-IV-TR (Codierung: 313.25). Auch in europäischen nichtmedizinischen Bereichen ist von selektivem Mutismus die Sprache. Schlussendlich beschreiben beide Termini jedoch dasselbe Krankheitsbild.
Was ist totaler Mutismus?
Nachdem Patienten die Entwicklungsphase des kindlichen Spracherwerbs abgeschlossen haben, tritt eine absolute Hemmung der eigentlich bekannten Lautsprache ein. Das Besondere bei Mutismus ist hierbei, dass das Sprech- und Hörvermögen nach wie vor bestehen bleibt. Aus diesem Grund lässt sich aus medizinischer Sicht keine konkrete Ursache für das plötzliche Auftreten dieser Kommunikationsstörung definieren. Vielmehr ziehen Fachkräfte multifaktorielle Erklärungsschemata zur Diagnose heran.
Was ist selektiver Mutismus?
Auch der selektive oder elektive Mutismus setzt nach Abschluss der Phase des Spracherwerbs ein. Im Gegensatz zum totalen Mutismus beschränkt sich die Kommunikationsstörung jedoch nur auf einen bestimmten Personenkreis. Das bedeutet, Betroffenen nutzen die Lautsprache ausschließlich zur Kommunikation mit ausgewählten Personen. Bei der Verständigung mit anderen gelten verbale Mittel jedoch nicht als verwendetes Medium. Mädchen leiden prozentual gesehen häufiger an selektivem Mutismus als Jungen. Bei anderen Sprachstörungen liegt die Gewichtung genau anderes herum. Auch der selektive Mutismus geht weder mit organischen Störungen oder sonstigem einher. Noch weniger ist es bei dieser Form des Mutismus klare Ursachen zu definieren.
Zu potenziellen Risikofaktoren für selektiven Mutismus beziehungsweise teilweise auch totalen Mutismus gehören nachfolgende:
- Prä-, peri- und/oder postnatale Komplikationen
- Psychische Störungen oder Persönlichkeitsstörungen der Eltern
- Bilingualität in Verbindung mit Migration
- Spezifische Zwillings- oder Geschwisterkonstellationen
Wodurch wird Mutismus verursacht?
Weder der totale noch der selektive Mutismus lässt sich durch einheitliche Erklärungsansätze in puncto Ursachen beschreiben. Folglich versuchen zuständige Fachkräfte anhand von verschiedenen Faktoren die Diagnostik zu erstellen, um mögliche Therapiemaßnahmen zu konzipieren.
Verschiedene Ursachen von totalem und selektivem Mutismus
- Physiologische Faktoren: Entwicklungsstörungen, familiäre Voraussetzungen, stark erhöhte Konzentration an Serotonin (ein Neurotransmitter) im Hirnstoffwechsel, psychiatrische Grunderkrankungen
- Psychologische Faktoren: Einflüsse der näheren Umgebung (Lebenswelt), Konditionierungsprozesse, Problemlösemechanismen, die von den üblichen abweichen.
- Gegenseitige Ergänzungen, welche die Sprachverweigerung auslösen (beispielsweise Diathese-Stress-Konfigurationen)
Akinetischer Mutismus: Eine Sonderform des Mutismus
Im Gegensatz zum selektiven beziehungsweise totalem Mutismus geht der akinetische Mutismus mit hirnorganischen Schädigungen und/oder Inhibitionsmechanismen einher.
Wie kommunizieren Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Mutismus?
Eine Beschäftigung mit dem Erscheinungsbild dieser Kommunikationsstörung legt die Vermutung nahe, dass Personen mit Mutismus auf nonverbale Verständigungsstrategien im Kontakt mit anderen Menschen ausweichen. Dies ist beispielsweise bei der Gebärdensprache für Taub-Stumme-Personen bekannt. Tatsächlich ist es jedoch so, das von Mutismus Betroffene nach dem verbalen Kommunikationsabbruch auch andere Formen der Verständigung meiden. Dieses Phänomen lässt sich bei Personen mit totalem als auch selektivem Mutismus beobachten.
Welche Folgeerscheinung treten bei Mutismus auf?
Mutistische Verhaltensweisen beeinflussen die gesamte Entwicklung von Betroffenen. Damit wirkt sich Mutismus ungünstig auf folgende vier Bereiche aus:
- Kognitive Entwicklung
- Sprachliche Entwicklung
- Emotionale Entwicklung
- Soziale Entwicklung
Dadurch wird die Persönlichkeitsentwicklung, das Selbstwertgefühl, aber auch die eigene Ich-Identität stark beeinflusst. Mit der Zeit leiden Betroffene unter weiteren Folgeerscheinungen wie:
- Sozialangst
- Widerstand gegen andere
- Depressive Stimmungen
- Seelische Zurückgezogenheit
- Kindliche Regulationsstörungen (Verhaltenskontrolle, Schlafen, Essen, Ausscheidung)
Infolge dessen entwickeln sich problematische Situationen in Schule, Berufsausbildung oder am Arbeitsplatz. Vereinzelt meiden bestimmte Personen sogar komplett den Kontakt aufgrund mutistischer Wesenszüge.
Die Schwierigkeit bei Kindern besteht darin, dass oftmals die Diagnose Mutismus nicht gestellt wird. Oft sind sie selektiv mutistisch. Das bedeutet, im privaten Umfeld zu Hause, unter Freunden und Bekannten sprechen sie normal. Im Gegensatz dazu schweigen sie jedoch in der Schule oder Ausbildung. Seitens der Lehrer oder Ausbilder wird dies viel zu oft gar nicht erkannt. Vielmehr stufen sie betroffene Kinder als schüchtern ein. Häufig folgen auch Beschreibungen wie lustlos. Das Problem ist augenscheinlich, dass es kaum Experten für die Diagnose Mutismus gibt. Es scheint, an dieser Stelle gibt vor allem für pädagogisches Fachpersonal einen immensen Nachholbedarf, um potenzielle Betroffene zu identifizieren und nicht einfach „abzustempeln“. Dies trifft vor allem für den Bereich des selektiven Mutismus zu.
Wie wird Mutismus diagnostiziert?
Im Rahmen der Diagnose von Mutismus sind folgende Ursachen in jedem Fall auszuschließen:
- Zentral-organische Schädigungen: Aphasie oder Schädel-Hirn-Trauma
- Gehörlosigkeit
- Sprachentwicklungsstörungen
- Schweigen aufgrund von Trotz zugunsten der Selbsterhaltung
- Sprachverweigerung während der Trauerphasen, um den Verlust von wichtigen Personen besser zu verarbeiten
- Bewusster Abwehrmechanismus beziehungsweise Vermeidungsverhalten, beispielsweise bei Präsentationen vor einer Vielzahl von Personen
In den meisten Fällen werden zur Diagnose von Mutismus die Kriterien des DSM-IV herangezogen. Auch Angaben des ICD-10 ähneln diesen stark.
Folgende Punkte müssen bei vorliegendem Mutismus existieren:
- Kontinuierliche Unfähigkeit, in speziellen Situationen zu sprechen, teilweise spricht der Betroffene jedoch wiederum in anderen Settings (beispielsweise Eltern, Freunde, Bekannte)
- Durch die Kommunikationsstörung werden berufliche und/oder schulische Leistungen behindert. Die soziale Kommunikation ist gestört.
- Merkmale von Mutismus existieren seit mindestens einem Monat, jedoch nicht während der ersten 30 Tage nach Schulbeginn.
- Die Tatsache, dass Menschen nicht sprechen, ist nicht dadurch zu erklären, dass sie der jeweiligen Landessprache nicht mächtig sind. Dies kann bei Migranten oder Flüchtlingen der Fall sein.
- Es gibt keine Möglichkeit, die beobachtete Kommunikationsstörung durch eine andere Störung wie beispielsweise Stottern, Stammeln oder Poltern zu erklären. Auch andere Störungsbildung wie Schizophrenie, psychotische Störungen beziehungsweise tiefgreifende Entwicklungsstörungen,wie Autismus sind auszuschließen.
Gibt es eine Behandlung für Mutismus?
Mutismus wird sprachtherapeutisch und psychotherapeutisch behandelt. Im Einzelfall ist es hilfreich, auch psychiatrische Hilfe mit heranzuziehen. Mutistische Jugendliche als auch Erwachsene können im Einzelfall mithilfe Antidepressiva wie beispielsweise Sertralin auch pharmakologisch behandelt werden. Als bewährtes Behandlungskonzept wird die Kombination aus sprachtherapeutischen und verhaltenstherapeutischen Methoden wie die SYMUT (Systemische Mutismus-Therapie) von Hartmann oft gewählt. Alternativ eignet sich ein kombinierter Ansatz aus Kommunikationstherapie und Psychologie von Katz-Bernstein. Im Gegensatz dazu gibt es weitere Behandlungskonzepte gegen Mutismus, die das kindliche Schweigen als positive Reaktion auf einen bestimmten Sachverhalt ansehen. Als Therapieziel wird die durch das Kind selbst initiierte Kontaktaufnahme mit anderen Personen definiert. Dieser Ansatz funktioniert jedoch meist nur dann, wenn die Sozialphobie nicht sehr stark ausgeprägt ist. Die Kosten für die Behandlung von Mutismus werden vom Sozialversicherungsträger bezahlt.
Ist Mutismus heilbar?
Bei einer frühzeitigen Diagnostik gibt es für Mutismus sehr gute Heilungschancen. Dabei ist es von Vorteil, wenn das nähere soziale Umfeld den gesamten Therapieverlauf konstruktiv mit begleitet.
Mutismus: wichtige Fakten auf einen Blick
- Gibt es einen Unterschied zwischen Mutismus und einer Psychose beziehungsweise Schizophrenie?
- Ja, Personen mit Mutismus leiden nicht unter Wahnsymptomen.
- Welchen Unterschied gibt es zwischen Mutismus und anderen Störungen wie Autismus, Hospitalismus (Deprivationssyndromen) beziehungsweise dem Asperger-Syndrom?
- Beim Mutismus treten keine Stereotypien auf. Zudem unterscheiden sich mutistische Verhaltensweisen in puncto Sozialverhalten stark von anderen Störungen.