Migräne bei Kindern erkennen und abklären
Der Anteil der betroffenen Kinder und Jugendlichen, denen „der Schädel brummt“ ist überraschend hoch. Erschwerend kommt hinzu, dass vor allem Kleinkinder die Schmerzen nicht oder nicht ausreichend konkret beschreiben können und der Schmerz daher oft auch nicht ernst genommen wird. Eine besondere Belastung für die jungen Patienten und ihre Eltern stellt Migräne dar. Die Symptome dabei sind recht vielfältig, weshalb die Diagnose oft erst recht spät gestellt wird. Bei bis zu 50 Prozent der Patienten, die bereits im Kindesalter unter Migräne gelitten haben, bleiben die Kopfschmerzen auch im Erwachsenenalter erhalten.
Experten bezeichnen Kopfschmerzen als stille Epidemie, ein als trivial empfundenes Alltagsleiden, das man nicht als wirkliche Erkrankung wahrnimmt. Ein Fehler: Denn viele gehen erst zum Arzt*, wenn der Kopfschmerz längst chronisch geworden ist. Im Vorfeld des 10. Wiener Schmerztages (www.schmerztag.at) betonen Experten, wie wichtig vor allem bei Kindern eine genaue diagnostische Abklärung und adäquate Behandlung ist, da Migräne sich auf die Lebensqualität, Leistungsfähigkeit und Entwicklung junger Menschen enorm auswirken kann.
Was ist eigentlich Migräne?
Univ.-Doz. Dr. Franz Riederer, stationsführender Oberarzt und Leiter der Kopfschmerzambulanz im Krankenhaus Hietzing mit neurologischem Zentrum Rosenhügel: „Migräne ist eine Erkrankung mit wiederkehrenden, mittelstarken bis starken Kopfschmerzen, die mehrere Stunden andauern und meist halbseitig auftreten. Die Migräneschmerzen gehen außerdem mit Übelkeit, Erbrechen und einer Überempfindlichkeit gegenüber Bewegungen, Licht und Lärm einher. Bei der Migräne läuft im Gehirn eine neurovaskuläre Entzündungsreaktion ab – eine Entzündung der Gefäß- Nervenendigungen im Gehirn, ohne dass eine Infektion durch einen Virus oder ein Bakterium vorliegt.“
Die Betroffenen ziehen sich in der Regel zurück und sind in vielen Fällen nicht arbeitsfähig. Migräne tritt familiär gehäuft auf: Bei der Mehrzahl der Patienten leidet auch ein Elternteil bereits an Migräne. Diagnostiziert wird die Migräne durch ein ausführliches Anamnese-Gespräch mit dem Betroffenen und eine neurologische Untersuchung.
„Im Gegensatz zur Migräne treten Spannungskopfschmerzen meist beidseitig auf und sind weniger stark. Die Begleitsymptome wie Übelkeit, Licht- oder Lärmempfindlichkeit sind wenn, dann nur sehr leicht ausgeprägt“, so Riederer.
Lebensqualität und Leistungsfähigkeit der Kinder stark eingeschränkt
Kopfschmerz ist nicht nur eines der meistverbreiteten Leiden in der Allgemeinbevölkerung, er stellt auch ein häufiges Problem im Kindes- und Jugendalter dar. 60 bis 80 Prozent der Kinder haben bereits mindestens einmal in ihrem Leben Kopfschmerzen gehabt.
Eine besondere Belastung für die jungen Patienten und ihre Eltern stellt die Migräne, eine eigenständige Form des Kopfschmerzes, dar. „3 bis 5 Prozent der 3- bis 11-Jährigen leiden darunter. Die Erkrankungshäufigkeit steigt danach bis zum 18. Lebensjahr bei Burschen auf etwa 7 Prozent und bei Mädchen auf 12 Prozent an. Auffallend ist auch das kontinuierliche Ansteigen der kindlichen Migräne im Laufe der vergangenen Jahrzehnte, so Univ.-Prof.in Dr. in Çiçek Wöber-Bingöl, Fachärztin für Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters.
Wie bei Erwachsenen hat Migräne bei Kindern und Jugendlichen gravierende Auswirkungen auf Alltagsaktivitäten und Lebensqualität. Die schulischen Leistungen und das Konzentrationsvermögen, Freizeitaktivitäten, das Familienleben allgemein und auch die für die Entwicklung wichtigen sozialen Kontakte zu Gleichaltrigen sind durch die – meist unvorhersehbar auftretenden – Attacken mitunter stark beeinträchtigt. Daher muss hier möglichst schnell und effektiv interveniert werden.
Migräne bei Kindern: Erkennen und abklären!
Wöber-Bingöl: „Nicht immer sind die Attacken so stark, also mit Übelkeit und Erbrechen verbunden, dass man gleich an Migräne denkt. Bei Kleinkindern äußert sich Migräne auch oft dadurch, dass sie sich zurückziehen, zu spielen aufhören und sich hinlegen. Eine auffallende Blässe und/oder Weinerlichkeit kann ebenfalls darauf hindeuten.“ Treten wiederkehrende Kopfschmerzen auf, ist eine detaillierte Anamnese die Grundvoraussetzung für die weitere Vorgangsweise.
Eine Kopfschmerzambulanz für Kinder und Jugendliche gibt es im Kaiser-Franz-Josefs-Spital in Wien. Riederer: „Kopfschmerz kann viele Ursachen haben. Es gilt also abzuklären, ob es sich tatsächlich um Migräne oder eine andere Art von Kopfschmerz handelt. Also ob z.B. ein Sehfehler vorliegt, eine Erkrankung des HNO-Bereichs wie z.B. eine Nasennebenhöhlen-Entzündung, Bluthochdruck.“
Mögliche Auslöser
Zur Vorbeugung der Migräne bei Kindern gehört das Erkennen von Auslösern und zusätzlichen Einflüssen. Daher wird das Führen eines Kopfschmerztagebuchs empfohlen. Als wichtigster Auslöser für Migräne gelten Veränderungen des Schlaf-Wach-Rhythmus – also entweder schläft das Kind zu wenig oder zu viel –, zu geringe Flüssigkeitszufuhr, verschobene oder ausgelassene Mahlzeiten, Leistungsdruck, schulischer Stress, Teilleistungsschwäche, Konflikte in der Familie und Ängste sowie psychiatrische Erkrankungen.
Lebens- und Genussmittel sind nur selten Auslöser von Migräne-Attacken. „Sensorische Reize wie Licht, Lärm und Gerüche dürften als Trigger bei Migräne mit Aura – meist visuelle oder andere sensorische Wahrnehmungsstörungen, die der Attacke vorausgehen – eine größere Rolle spielen als Migräne ohne Aura“, erklärt Wöber-Bingöl. Migräne ohne Aura ist die häufigste Verlaufsform.
Stressfaktor Schule ist nicht zu unterschätzen
Gerade auch die zunehmende Belastung in der Schule oder „Stress“ mit Mitschülern, Mobbing oder ein Zuviel an Freizeitaktivitäten können Auslöser bzw. Verstärker für eine Migräne bei Kindern sein. Eine Studie hat gezeigt, dass Migräne und Spannungskopfschmerzen unter Schülern in Österreich sehr häufig sind (jeweils knapp 40%). 1/5 der Schüler konnten wegen Kopfschmerzen in den letzten 4 Wochen nicht zur Schule gehen.¹
Viele der Kinder und Jugendliche haben ein schulisches und außerschulisches Arbeitspensum von mehr als 40 Stunden pro Woche. Freizeit wird meist vor dem PC oder Handy verbracht, sie stehen also ständig im Austausch mit anderen, sind ununterbrochen – oft gleich einer Vielzahl – von Reizen ausgesetzt. Es liegt auf der Hand, dass sich das auf die Anzahl und Stärke der Migräne-Attacken auswirken kann.
„Allgemein gesprochen sind häufige Migräne-Attacken ein Hinweis, dass es der Seele oder dem Organismus des Kindes nicht gut geht. Aufgabe des Arztes ist es dann, an der Oberfläche zu kratzen und den Grund für die Häufigkeit zu suchen. Auch darin liegt die Kunst der Behandlung von Migräne“, so Wöber-Bingöl.
Therapie der Migräne im Kindes- und Jugendalter
Die ersten Schritte nach diagnostizierter Migräne sind laut Wöber-Bingöl die Aufklärung der Eltern und Patienten über die Erkrankung, den Umgang mit den Auslösern sowie gegebenenfalls eine Lebensstiländerung: ausreichender Schlaf, rechtzeitiges Aufstehen in der Früh, um den Tag langsam und ohne Hektik zu beginnen, klar definierte Lernpausen, echte Ruhephasen, also ohne Handy, PC und andere Außenreize sowie regelmäßiges Essen und Trinken sind für kleine Migräne-Patienten prophylaktisch von großer Wichtigkeit.
Während einer akuten Migräne-Attacke sollten die Eltern für eine Reizabschirmung sowie eine entspannend-beruhigende Atmosphäre sorgen. Gerade bei Kleinkindern vermögen wenige Stunden Schlaf eine Attacke zu unterdrücken.
Eine schmerzstillende Selbst-Medikation sollte keinesfalls verabreicht werden, so Wöber-Bingöl. Dies sei immer mit dem Arzt abzuklären. Denn gerade bei Kopfschmerzmitteln können die Medikamente selbst wieder Kopfschmerzen verursachen; man spricht vom medikamenteninduzierten Kopfschmerz.
Sind die Attacken so belastend, dass eine medikamentöse Therapie erwogen wird, sollte ein für das jeweilige Alter und den jeweiligen Kopfschmerz passendes schmerzstillendes Medikament in einer altersentsprechenden Dosierung und Verabreichungsform (z.B. Saft oder Nasenspray) gegeben werden, und dies so früh wie möglich. Bingöl-Wöber: „Denn so kann die Attacke am besten abgefangen werden.“
„Wichtig ist auf jeden Fall, dass Kindern und Eltern ein vorsichtiger Umgang mit den schmerzstillenden Medikamenten vermittelt wird, um zu verhindern, dass sich später ein übermäßiger Medikamentengebrauch oder sogar eine Medikamentenabhängigkeit entwickelt“, sagt die Kopfschmerz-Spezialistin.
Riederer: „Nur ein geringer Teil der von Migräne Betroffenen wendet sich an einen Arzt. In vielen Fällen wird die Migräne gar nicht diagnostiziert. Dies wäre aber wichtig, um eine geeignete Behandlung einleiten zu können. Die erste Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche mit Migräne ist der Kinderarzt, der bei Bedarf und je nach Alter des Betroffenen weiter zuweist.“
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Quellen:
¹ Wöber-Bingöl et al, J Headache & Pain (2014)
² Univ.-Doz. Dr. Franz Riederer „Migräne ist nicht gleich Kopfschmerz“ (2018)
Linktipps
– Migräne
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– Quigong für Kinder